Auf Biegen und Brechen – Verpackungslabor 2.0

Zugegeben: Im Kontext von Künstlicher Intelligenz (KI) und Digitalisierung klingen Versuchslabore aus dem Jahr 1986 wenig innovativ und »mind blowing«, sondern allenfalls traditionell oder gar »verstaubt«. Dass »alt« nicht gleich »lahm« bedeutet und sich Altbewährtes und Fortschrittliches nicht ausschließen, beweist das Verpackungslabor des Fraunhofer IML – in das mittlerweile auch KI Einzug hält.

Es ist der Traumjob eines jeden kleinen oder großen Kindes mit Zerstörungsdrang: Gegenstände so lange mit Hitze, Feuchtigkeit, Stößen, Stürzen und roher Gewalt bearbeiten, bis sie kaputt gehen. Was bestenfalls nach Spaß, aber alles andere als nützlich klingt, ergibt in der Verpackungslogistik durchaus Sinn. Denn: Die primäre Aufgabe einer jeden Verpackung ist es, Produkte vor Beschädigungen zu schützen. Im täglichen Einsatz allerdings werden Verpackungen im Lager, auf dem Lkw oder im Supermarkt gestapelt, gerollt, gezogen, sie erleiden beim Transport Stürze, Stöße oder Vibrationen und werden je nach Zielort extremen Temperaturen und Feuchtigkeit ausgesetzt. Um herauszufinden, wie viel am Ende »zu viel« ist und wie Verpackungen gestaltet sein müssen, damit sie den Herausforderungen gewachsen sind, simulieren die – wie sie sich selbst nennen – »Verpacker« die entstehenden Belastungen im Labor realitätsnah mit speziellen Prüfmaschinen. Markus Menting, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Verpackungslabor, ist einer dieser »Verpacker« (Verpackungslogistiker): »Wir haben hier die Möglichkeit, Schwachstellen, Einsparpotenziale und die Leistungsfähigkeit von Transportverpackungen, also beispielsweise Pappkartons, Ladungsträgern wie Europaletten, aber auch von kompletten Ladeeinheiten zu analysieren und zu bewerten«, so Menting. Die Prüfungen erfolgen nach nationalen und internationalen Standards wie DIN (Deutsches Institut für Normung e. V.), ISTA (International Safe Transit Association) oder ASTM (American Society for Testing and Materials).

Prüfstand der Extreme

DIN, ISTA und ASTM klingen eher nach präzisen Messungen und mitunter aufwendigen Prüfberichten, dahinter stecken aber auch besagte Belastungstests, die nicht nur Kinderaugen zum Leuchten bringen. In der Zug- und Druckprüfmaschine werden beispielsweise Paletten, Gitterboxen, Behälter und Ladeeinheiten (z. B. eine gepackte Palette mit gestapelten Kartons) auf ihre rutschhemmenden Eigenschaften und ihre Tragfähigkeit/Durchbiegung bei Hochregal- und Bodenlagerung getestet. Einfach ausgedrückt: Kartons, Behälter und Ladeeinheiten werden zwischen zwei Metallplatten gelegt und dann zerquetscht. Ebenso die Klötze und Füße von Behältern und Paletten. Paletten aus unterschiedlichsten Materialien werden außerdem so lange durchgebogen, bis sie brechen. Darüber hinaus gibt es einen sog. Präzisionsfalltisch und Fallhaken, mit denen die Prüfobjekte aus Höhen von bis zu vier Metern fallen gelassen werden, um u. a. die Stabilität beim Eckfall einer Palette oder eines Kartons zu bewerten. Um auch unterschiedliche Temperatur- und Luftfeuchtebedingungen sowie Dauerbelastungen abbilden zu können, stehen vier Klimakammern mit einer Größe von bis zu 12 Quadratmetern zur Verfügung. In diesen können die Prüfobjekte bei Bedarf auch schon vorab Temperaturen zwischen -45 °C und +140 °C sowie einer relativen Luftfeuchtigkeit von 10 bis 95 % ausgesetzt werden. Zwei Schwingtische simulieren zudem Vibrationen und dynamische Schwingungsbelastungen, wie sie auf eine Verpackung oder Ladeeinheit beim Transport per Lkw, Bahn oder Flugzeug einwirken. »Die Prüfungen stellen nicht nur sicher, dass die Verpackungen und Ladungsträger robust und zuverlässig sind, sondern vermeiden auch teure Anlagenstillstände, Kundenreklamationen und den Einsatz überdimensionierter, teurer Ladungsträger«, erklärt Menting.

Ein Mann verlädt Paletten in die Klimakammern.
© Fraunhofer IML

Die Sofaritze des Labors

Das Horizontal Impact Test System im Verpackungslabor
© Fraunhofer IML

Herzstück des Verpackungslabors ist das »Horizontal Impact Test System« (HITS), eine in dieser Form weltweit einzigartige Prüfmaschine, die eigens für das Verpackungslabor in den USA entwickelt und angefertigt wurde und seit 2012 in Betrieb ist. Auf einer 17 Meter langen Teststrecke können Prüfobjekte mit einem Gewicht von bis zu 1500 kg realen Transportbelastungen ausgesetzt werden. Die HITS simuliert mit hoher Präzision horizontale Belastungen, wie sie beim Kurvenfahren von Lkw, bei Vollbremsungen oder beim Koppeln von Eisenbahnwaggons auftreten. So können material- und kosteneffiziente Maßnahmen zur Bildung von Ladeeinheiten entwickelt und die Sicherheit im Transport erhöht werden. »Wir prüfen hier Verpackungen aus allen Branchen und wir hatten auch schon das Pech, dass wir Zucker und Ginger Ale auf der HITS beschleunigen wollten und gleich zu Beginn alles umgekippt ist. Das klebrige Zeug war überall auf den Schienen und in jeder Ritze, also da hat sich über die Jahre sicherlich einiges angesammelt«, erzählt Menting. Womöglich würde die Maschine heute noch süß schmecken.

Ein Labor voller Möglichkeiten

Gabelstapler, Hubwagen und Rollenbahn komplettieren das altbewährte Portfolio des Verpackungslabors. Mit ihnen können Fahr- und Handlingstests unter realistischen Bedingungen durchgeführt werden, wie das Durchfahren von Bodenwellen, Bremsmanöver und raues Handling. Auf der Rollenbahn-Förderstrecke lässt sich das Verhalten von Ladungsträgern und Ladeeinheiten bei Dauerbelastung feststellen – sei es Abrieb, Risse oder Brüche. Im Netzmittelbad wird getestet, wie sich Ladungsträger für den Hygienebereich (z. B. H1-Hygienepaletten) nach einem Bad in heißer Seifenlauge verhalten. Die Ergebnisse werden mithilfe moderner Präzisionsmess- und Kameratechnik erfasst. Dazu gehören digitale Kameras mit Zeitlupenaufnahmen, elektronische Distanzmessgeräte sowie Datenlogger zur Aufzeichnung von Temperatur, Feuchtigkeit und Beschleunigung

Generationen von Verpackern

Ralf Wunderlich, technischer Leiter des Verpackungslabors und ein wahrer »Altmeister« seines Fachs, bringt über 30 Jahre Erfahrung und umfangreiches Wissen in das Labor ein. Tag für Tag gibt er sein fundiertes Wissen an junge  Verpacker weiter und unterstützt sie bei den vielfältigen Prüfungen und im Laboralltag. Auf diese Weise hat er schon viele Studierende und heutige Mitarbeitende ausgebildet. Aber auch Wunderlich selbst profitiert von der Zusammenarbeit: In Sachen Forschung und Sensortechnik hat die jüngere Generation die Nase vorn, sodass sich das Team perfekt ergänzt. So passt sich auch das Verpackungslabor, das 2012 umfangreich modernisiert und umgestaltet wurde, kontinuierlich den neuesten technologischen Entwicklungen an und steht damit gleichermaßen für Tradition und Innovation. »100-mal den gleichen Stoß auf einer Rollenbahn auszulösen, um damit zum Beispiel eine KI auf diese Bewegungs- oder Beschleunigungsdaten zu trainieren, sind Möglichkeiten, die bisher noch nicht wirklich ausgeschöpft wurden und die wir jetzt erst richtig angehen«, berichtet Lukas Lehmann, Teamleiter der Verpacker. Die Rede ist vom Forschungsprojekt »Pal2Rec« (Sensorbasierte logistische Aktivitätskennung von (Euro-)Paletten), dessen Ziel es ist, logistische Ereignisse (Stöße, Anhalten usw.) anhand von Bewegungsdaten zu erkennen. Doch der Reihe nach:

Eine Palette wird durch eine Rollbahn im Verpackungslabor bewegt.
© Fraunhofer IML

Forschungsprojekt Pal2Rec

Verpackungen müssen heute mehr leisten als je zuvor. Sie sollen nicht nur den Inhalt schützen, sondern auch umweltfreundlich, kostengünstig und benutzerfreundlich sein. »Smart Packaging« ermöglicht es, durch die Einbindung von Sensoren und digitalen Technologien Daten über den Ort, den Zustand und die Verfügbarkeit von Waren in Echtzeit zu erfassen und auszuwerten. Auch Paletten wurden in den letzten Jahren zunehmend mit Codes und Sensorik ausgestattet, um die verborgenen Potenziale für Transparenz und Effizienz in der Supply Chain zu nutzen. Soweit die Theorie. Doch Julian Brandt, Projektleiter von »Pal2Rec« weiß: »Die Idee, an intelligenten Paletten zu forschen, ist nicht neu, die Kunst besteht darin, aus den Daten etwas zu machen.«
 

»Die Idee, an intelligenten Paletten zu forschen, ist nicht neu, die Kunst besteht darin, aus den Daten etwas zu machen« - Julian Brandt
 

Paletten sind die stillen Stars, die unbesungenen Helden der Logistik. Die einfachen Holzrahmen, auf denen unzählige Güter von A nach B transportiert werden, sind seit Jahrzehnten unverzichtbar. Doch was wäre, wenn diese Paletten mehr könnten als nur tragen? Genau hier setzt das im Februar 2024 gestartete Forschungsprojekt Pal2Rec an. Die mit Sensoren ausgestatteten Paletten können nicht nur ihre Bewegungen aufzeichnen, sondern auch Stürze, Stöße, Kippbewegungen und die Art ihrer Beschleunigungen registrieren. Dadurch lassen sich detaillierte Einblicke in den regulären Transportprozess gewinnen. Wird eine Palette z. B. ein- oder ausgelagert, zeichnen die Sensoren diese Ereignisse auf und liefern wertvolle Daten zur Analyse

Von der Datenerhebung zur Prozessoptimierung

Im Labor wird derzeit fleißig getestet und verschiedene Sensoren miteinander verglichen, Videos aufgezeichnet und Daten ausgewertet. Auf eigens dafür eingerichteten Parcours fahren Paletten mit integrierten Sensoren umher. Diese Messungen werden dann mit den Videoaufnahmen verknüpft und ausgewertet. Die Videos dienen später dazu, eine KI anzulernen, die die Bewegungsmuster automatisch erkennen und einordnen soll. Einzigartig ist, dass die Paletten keine externe Informationsquelle benötigen. Sie sind autark und sammeln ihre Daten selbst. Ein entsprechendes Programm genügt, um die Daten zu verarbeiten und nutzbar zu machen. Die gesammelten Daten sind für die Logistikbranche von unschätzbarem Wert. »Sie ermöglichen nicht nur die Nachverfolgung von Transportprozessen, sondern helfen auch, Anomalien und Schäden zu erkennen. So kann frühzeitig eingegriffen werden, wenn etwas schief läuft«, erklärt Brandt. Derzeit ist die intralogistische Fördertechnik eine absolute Blackbox: Paletten fahren heile, mit Ware beladen hinein und kommen irgendwann beim Kunden aus der Fördertechnik wieder heraus – beschädigt, ramponiert, kaputt. Mit Pal2Rec gibt es erstmals die Möglichkeit, diese Blackbox zu entschlüsseln.

Die mobile Revolution

Abgeschlagene Kufen, kaputte Klötze, gebrochene Bretter: Viele Unternehmen kennen das Problem, dass die Paletten unbeschädigt in die Fördertechnik gelangen und nach 10 km wieder herauskommen und aussehen, als wären sie 10 Jahre gealtert. Da der Lösungsansatz von Pal2Rec auch in diesem Fall helfen kann, haben die Verpacker parallel zum Forschungsprojekt einen Demonstrator geschaffen, der als mobile Prüfeinheit direkt beim Kunden vor Ort in die Fördertechnik eingespeist werden kann, um mögliche Auffälligkeiten zu analysieren. Das funktioniert so: Eine batteriebetriebene und mit Messtechnik ausgestattete Palette durchläuft den normalen Kreislauf eines Unternehmens (Produktion, Lagerung, Transport) und zeichnet dabei die Bewegungs- und Beschleunigungsdaten, inklusive der Stöße auf, denen sie währenddessen ausgesetzt ist. Gleichzeitig liefert eine 360°-Kamera detaillierte Bilder dieser kritischen Momente. Dank synchronisierter Zeitstempel können die aufgezeichneten Stöße exakt mit den Kamerabildern verknüpft werden. Dies ermöglicht eine genaue Lokalisierung der kritischen Stellen entlang der Förderstrecke. Auf dieser Basis können diese Bereiche gezielt analysiert und sukzessive optimiert werden, um Schäden an den Paletten effektiv zu minimieren oder bestenfalls ganz zu vermeiden.

Ein Blick in die Zukunft

Das beschriebene Szenario nutzt nur einen kleinen Teil der Möglichkeiten von Pal2Rec, stellt aber heute schon einen sehr konkreten Anwendungsfall dar. Nach Abschluss der aktuellen Machbarkeitsstudie im Oktober 2024 ist eine breitere Anwendung der Technologie in Kooperation mit verschiedenen Logistikunternehmen und Branchenakteuren geplant, um das System umfangreicher in der Praxis zu erproben. Dabei soll vor allem die Sensorik verbessert und die Datenaufnahme auf alle Bereiche der Intralogistik ausgeweitet werden, um so die logistischen Aktivitäten erkennen zu können. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) im Rahmen der Innovationsinitiative mFUND mit rund 200.000 Euro gefördert. Die Projektpartner, das Fraunhofer IML und der Lehrstuhl für Förder- und Lagerwesen (FLW) der TU Dortmund, bewerben sich derzeit um eine Anschlussförderung. 

Neue Stufe der Verpackungsprüfung

Die in Pal2Rec eingesetzten Messsysteme kommen auch außerhalb des Forschungsprojekts zum Einsatz und ergänzen das altbewährte Portfolio des Labors perfekt. Dabei eröffnen sich neue Potenziale und Anwendungsmöglichkeiten: Bisher lag der Fokus der Forschung eher darauf, ob eine Verpackung die Ware ausreichend schützt. Mit Hilfe der Messtechnik können nun auch die Auswirkungen auf die Ware selbst gemessen werden. Das heißt, die Sensoren können nicht nur außerhalb der Verpackung oder am Ladungsträger angebracht werden, um die dort wirkenden Kräfte zu messen, sondern auch direkt im Karton, an der Ware selbst. Alternativ kann auch eine 3D-gedruckte Kopie anstelle der Ware platziert werden. »Früher haben wir auf das Verpackungssystem geguckt: Hält die Palette, hält die Box, hält der Karton, hält die Ladeeinheit – ja/nein und dann reingeschaut: Ist das Produkt beschädigt/ist das Produkt nicht beschädigt. Jetzt können wir Rückschlüsse ziehen, warum es nicht mehr heile ist«, erläutert Lukas Lehmann. Besonders wichtig ist das bei bruchgefährdeter Ware oder Flüssigkeiten, aber auch bei empfindlichen Objekten wie Medizinprodukten oder sensibler Messtechnik, bei denen schon geringe Erschütterungen zu Schäden führen können. Welche Schwingungen bei den Tests auf die Verpackungssysteme einwirken, weiß das Team des Verpackungslabors jederzeit, denn es stellt die Intensität selbst ein und misst regelmäßig an den Verpackungen und Ladeeinheiten, ob die eingeleiteten Schwingungen dort auch ankommen. »Früher wussten wir allerdings nicht genau, was in der Verpackung selbst passiert, weil oft ein Karton, eine Polsterschicht, vielleicht noch eine Schachtel und eine Produktverpackung dazwischen liegen. Wir wussten nicht, ob das Verpackungssystem die Vibrationen oder Stöße wirklich so absorbiert, wie es sollte, und am Ende geht es ja genau darum, die Ware zu schützen«, sagt Lehmann. Mit dem hochmodernen Messsystem haben die Verpacker endlich Gewissheit. 

Lukas Lehmann, M. Sc.

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Lukas Lehmann, M. Sc.

Teamleiter Verpackungslogistik

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