Interview mit Prof. Michael ten Hompel

Die Simulationsbasierte Künstliche Intelligenz bietet bei der Entwicklung von Logistiklösungen ganz neue Möglichkeiten. Welche Auswirkungen hat das auf die Logistikprozesse der Zukunft?

 

Die Komplexität logistischer Prozesse ist viel höher, als es auf den ersten Blick scheint. Wir haben es mit großen Datenmengen zu tun und müssen zugleich an vielen Stellen gegensätzliche Ziele miteinander vereinbaren, um die Logistik vernünftig zu gestalten. Die Folge ist, dass unser Betrachtungsraum regelmäßig »explodiert«. Mit anderen Worten ist die Schwierigkeit, logistische Probleme algorithmisch zu lösen, oft so groß, dass wir sie nicht mit konventionellen Rechnern in absehbarer Zeit berechnen können.

Das ist auch einer der Gründe, warum logistische Probleme zu den Top-Themen gehören, die im Zusammenhang mit dem Quanten-Computing genannt werden. Diese könnten Millionen von Systemzuständen gleichzeitig einnehmen und durch Superposition Lösungen für spezifische Probleme quasi ad hoc liefern. Aber das nur am Rande.

Die Folge ist, dass wir oft mit Vereinfachungen und Heuristiken arbeiten, die uns unmittelbar logisch erscheinen, aber vielleicht zu einer Lösung weit entfernt vom Optimum führen – wir wissen es in vielen Fällen einfach nicht besser. Daher haben wir angefangen, logistische Systeme zu simulieren, um wenigstens unterschiedliche Varianten miteinander zu vergleichen. In diese Simulationen fließen dann das Fachwissen und viel Intuition von sehr erfahrenen Fachleuten ein.

Mit der Simulationsbasierten KI gehen wir einen Schritt weiter: Wir schaffen zunächst eine ganzheitliche Simulationsumgebung (virtuelle Realität), die zum Beispiel ein Lager bis ins letzte Detail und physikalisch korrekt abbildet. In dieser virtuellen Realität lassen wir dann wiederum bis ins Detail modellierte, Digitale Zwillinge laufen. Das kann ein Algorithmus, aber auch ein einzelnes Fahrzeug wie der Odyn oder ein Schwarm unserer neuen evoBOTs sein. Die virtuelle Realität, die wir mit Partnern wie NVIDIA schaffen, ist so perfekt, dass die Digitalen Zwillinge über ihre Sensoren nicht mehr »erkennen« können, dass sie sich in einer Simulation bewegen. Sozusagen ein Roboter-Deepfake.

»Die Entwicklung in Richtung dieser Simulationsbasierten KI ist keine Revolution, sondern eine Evolution. Neu ist die Perfektion der simulierten Realität in Verbindung mit einer Rechnerleistung, die auch komplexe Systeme in Echtzeit abbilden kann.«

Prof. Michael ten Hompel

© Fraunhofer IML

Welche Potenziale können wir mit Simulationsbasierter KI heben?

Die Potenziale sind grundsätzlicher Natur und betreffen die Steuerung, Planung und Disposition der Logistik in ganzer Breite. Aber wenn wir schon über Künstliche Intelligenz sprechen, dann stellen wir die Frage doch einmal an das GPT-3 Transformer-Netzwerk (das mittels Deep Learning menschenähnliche Texte erzeugt). Seine Antwort ist: »Simulationsbasierte KI ist eine KI-Technik, bei der ein Computerprogramm eine möglichst realistische Umgebung nachbildet, in der ein oder mehrere KI-Agenten agieren können. Das Ziel dieser Technik ist es, die Agenten so zu trainieren, dass sie in der realen Welt so gut funktionieren wie möglich. […] Simulationsbasierte Künstliche Intelligenz wird in der Lage sein, die Logistikprozesse der Zukunft in vielerlei Hinsicht zu verbessern. Zum einen wird sie in der Lage sein, die Effizienz der Lieferkette zu verbessern, indem sie die verschiedenen Komponenten der Lieferkette miteinander verknüpft. Zum anderen wird sie in der Lage sein, die Logistikprozesse zu automatisieren und somit die Kosten zu reduzieren.«

Was verstehen Sie genau unter dem Digitalen Kontinuum?

Ein Kontinuum bezeichnet etwas, was ununterbrochen aufeinanderfolgt. In der Physik kennen wir das Raum-Zeit-Kontinuum, dessen lückenlose Gestalt Grundlage unserer Existenz ist. Ein geschlossener Kreis kann aber auch als eine solche ununterbrochene Folge verstanden werden. Mit der Plattformökonomie und vor dem Hintergrund der Silicon Economy schließen sich zurzeit autonome Prozess- und Wertschöpfungsketten. Planung, Ausschreibung, Disposition, Operation etc. werden auf KI-Plattformen verlinkt und es entstehen lernende, sich selbst verstärkende und beschleunigende Prozesse. Das bezeichnen wir als Supply-Chain-Kontinuum. Ein solches Kontinuum setzt Transparenz, Datensouveränität, Virtualisierung und echtzeitnahe Vernetzung – mit anderen Worten: die Silicon Economy – voraus. Die Silicon Economy ist das Ecosystem des Supply-Chain-Kontinuums.

Das ist die eine Seite des Digitalen Kontinuums. Über die andere Seite haben wir bereits gesprochen. Es entsteht das »Robotik-Kontinuum«, und mit ihm werden zum Beispiel Roboterschwärme möglich. Deren Komplexität konnte jedoch bisher mit klassischen Steuerungssystemen nicht abgebildet werden. Heute haben wir mit dem LoadRunner, den wir gemeinsam mit KION zu einer ganz neuen Fahrzeugklasse entwickeln, einen autonomen Roboter, der agil und intelligent genug ist, um als Avatar der virtuellen Welt zu agieren und damit das Robotik-Kontinuum Realität werden zu lassen. Wir sollten bei all der Technik aber auch nicht aus den Augen verlieren, wozu sie uns dient. Es geht am Ende darum, eine nachhaltige, resiliente, wandelbare, transparente Zukunft zu gestalten. Ich bin sicher, dass das Digitale Kontinuum hierzu ein entscheidendes Werkzeug werden wird.

Robotersysteme werden immer komplexer und immer intelligenter: Wie stellen Sie sicher, dass sich die KI nicht irgendwann verselbständigt?

Die Verselbstständigung Künstlicher Intelligenz liegt in ihrer Natur. Wir wollen mit KI zu neuen Lösungen kommen, also können wir sie nicht so programmieren, dass sie sich nicht verselbständigt. Die Frage ist, wann, in welchem Umfang und vor allem nach welchen Maßstäben dies geschieht. Das führt uns zur Frage nach einer »maschinellen Verantwortung«, wie wir sie bereits vor einigen Jahren in die Diskussion gebracht haben. Es geht darum, die Werte und Normen festzuschreiben, denen Maschinen zu folgen haben, sodass »maschinelle Verantwortung« inhärenter Bestandteil der KI wird. Versuche, KI zwangsweise so zu programmieren, dass der Mensch Entscheidungen nachvollziehen und auf diese Weise einer KI vertrauen kann, halte ich für Zeitverschwendung. Vertrauen entsteht durch Erfahrung. Schon heute fahren wir mit KI-basierten Assistenzsystemen und vertrauen ihnen, obwohl wir nicht im Detail nachvollziehen können, welche Regeln die Autobauer der KI mitgegeben haben.

Die meisten großen Entwicklungen zu KI laufen zudem in internationalen Open Source Communities wie OpenAI. Diese zu kontrollieren ist faktisch nicht machbar – einen gemeinsamen Codex zur »maschinellen Verantwortung« einzubringen aber sehr wohl. Auch hier ist die Zeit der Alleingänge vorbei!

Michael ten Hompel

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Prof. Dr. Michael ten Hompel

ehemaliger Institutsleiter

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