Das Fraunhofer IML hat gemeinsam mit universitären Partnern im Juli 2018 das »Innovationslabor Hybride Dienstleistungen in der Logistik« eröffnet – gefördert mit 10 Millionen Euro vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Was kann das Labor zu dieser Vision vom Arbeitsplatz der Zukunft beitragen?
Ten Hompel: Soziologische Themen und die Gestaltung des Arbeitsplatzes haben mittlerweile einen völlig anderen Stellenwert bekommen. Innerhalb des Innovationslabors wollen wir an einer Zukunftsvision arbeiten, die wir Social Networked Industry nennen. Und darunter verstehen wir einerseits die soziale Gestaltung von Arbeit. Auf der anderen Seite gehen wir davon aus, dass die Kooperation von Menschen und Maschinen zukünftig in sozialen Netzwerken stattfinden wird. So entsteht ein völlig neues Verhältnis zwischen Mensch und Maschine.
Und dieses Verhältnis gilt es soziologisch zu untersuchen.
Ten Hompel: Richtig. Auf der anderen Seite brauchen wir für diese Zukunftsvision aber auch eine ganze Menge Technik. Und die entwickeln wir auch im Innovationslabor. Dazu zählt z. B. ein autonomer Drohnenschwarm, der uns als Versuchsträger dient, um schnelle autonome Systeme zu simulieren.
Warum braucht es dazu einen Drohnenschwarm?
Ten Hompel: Wir nutzen den Drohnenschwarm, um Algorithmen zu entwickeln, mit denen wir autonome Fahrzeuge und Maschinen untereinander und in Interaktion mit dem Menschen steuern. Hierbei nutzen wir zunehmend Verfahren künstlicher Intelligenz wie maschinelles Lernen und neuronale Netze. Drohnen sind gut geeignet, da wir praktisch beliebige Szenarien im industriellen Maßstab dreidimensional und hoch dynamisch abbilden können. Solch einen Schwarm autonomer Drohnen zu steuern ist aber auch ein Forschungsgegenstand in sich – von der Sensorik über die echtzeitfähige Vernetzung bis zu den KI-Algorithmen zur dezentralen Schwarm-Organisation. Daneben haben wir aber auch gewöhnliche Fahrzeuge im Einsatz und Hunderte intelligente Behälter, die das Szenario steuern. Unsere Forschungshalle des Innovationslabors ist also genau so eine intelligente Umgebung, wie sie in Zukunft üblich sein wird.
Künstliche Intelligenz ist in Zeiten von Industrie 4.0 in aller Munde. Sie sprechen lieber von biointelligenten Systemen. Warum? Und welche Rolle spielen diese Systeme für die Arbeit der Zukunft?
Ten Hompel: Das ist keine Abgrenzung, ganz im Gegenteil. Wir sehen, dass Verfahren künstlicher Intelligenz eine sehr große Rolle spielen werden. Ich brauche Verfahren der künstlichen Intelligenz, um die Partnerschaft zwischen Mensch und Maschine zu realisieren mit dem Ziel, effiziente und menschengerechte Systeme zu schaffen, in denen die Zukunft der Logistik stattfinden kann. Künstliche Intelligenz wird aber mehr und mehr anwendbar in relativ kleinen cyberphysischen Systemen vom Regalfach bis zur Drohne. Das kleinste aktuelle Beispiel für künstliche Intelligenz ist unser »Low Cost Tracker«, den wir gemeinsam mit der Deutschen Telekom entwickelt haben: Flatrate 10 Euro, Zielpreis gut 10 Euro, Kommunikation über »NarrowBand IoT« (NB-IoT). Solche Systeme haben heute genügend Rechnerleistung, um einfache Verfahren künstlicher Intelligenz umzusetzen. In Zukunft haben wir es also mit einer hohen Anzahl von Systemen zu tun, die potenziell in der Lage sind, KI-Algorithmen auszuführen. Künstliche Intelligenz besteht dann aus einzelnen dezentralen Zellen. Die Biologie würde von Protozoen sprechen.
Womit wir bei den biointelligenten Systemen wären.
Ten Hompel: Ganz genau. Die Frage ist: Wie steuern wir solche Systeme? Da müssen wir einen Blick auf die Evolution werfen, denn die Evolution ist das Einzige, was in den vergangenen drei Milliarden Jahren überlebt hat. Eine Lehre, die wir daraus ziehen können: Die Evolution ist noch nie auf die Idee gekommen, für einen Schwarm, ein Habitat oder eine Biosphäre einen Zentralrechner einzuführen. Ganz im Gegensatz zu dem, was wir aktuell machen. In Zukunft sprechen wir aber von Hunderttausenden, Millionen oder Milliarden solcher Systeme, die alle die Fähigkeit haben, autonom zu handeln und auf denen schwache und irgendwann starke KI-Algorithmen laufen werden. Ein weiterer Aspekt: Wir werden es in Zukunft mit echtzeitfähigen Netzwerken zu tun haben – Stichwort 5G. NB-IoT ist ein Ultra-Low-Power-Netzwerk und nicht echtzeitfähig, ich kann darüber nur wenige Daten übertragen. Das wird sich im Rahmen von 5G weiterentwickeln, sodass wir sowohl für die Intralogistik als auch für die Extralogistik über das gleiche, echtzeitfähige Netzwerk verfügen werden. Doch wie sieht dann die virtuelle Umgebung für künstliche Intelligenzen aus, die Biosphäre unseres Protozoons? Das ist aus meiner Sicht die zentrale Forschungsfrage für die kommenden Jahre.
Was glauben Sie, wie die Umgebung aussehen wird?
Ten Hompel: Das ist schwierig vorherzusagen. Sie wird auf alle Fälle Elemente enthalten, wie wir sie heute in sozialen Netzwerken im Internet vorfinden. Zudem wird diese Biosphäre eine Weiterentwicklung des Internet der Dinge darstellen. Im Internet der Dinge steuern die Dinge sich selbst, sie sind eben entsprechend vorprogrammiert. In Zukunft werden wir es aber mit wirklich autonomen und autarken Systemen zu tun haben. Und wenn wir das mit künstlicher Intelligenz kombinieren, werden wir es irgendwann nicht nur mit lernenden Protozoen zu tun haben, sondern mit lernenden Gesamtsystemen.
Zurück zum Innovationslabor: Was kann ich als Vertreter eines Unternehmens im Innovationslabor für die Zukunft meines Unternehmens und für meine aktuellen Herausforderungen lernen?
Ten Hompel: Wir befinden uns momentan zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte in der Situation, dass wir mehr Technik in den Händen halten, als wir überhaupt sinnvoll nutzen können. Es tut sich eine neue Welt ungeheurer Möglichkeiten auf durch die Digitalisierung und durch die Rechnertechnik, die uns heute für wenige Cent zur Verfügung steht. Schauen wir uns nur einmal an, wie wenig wir die Rechnerleistung unserer Smartphones nutzen: Wir nutzen es, um ein paar kleine Apps laufen zu lassen und über den Bildschirm zu wischen – und das mit einer Rechnerleistung, die im Jahr 2000 noch der eines Supercomputers entsprochen hätte. Wir helfen Unternehmen, vorhandene Möglichkeiten zu nutzen, neue Technologien zu erschließen und daraus Geschäftsmodelle zu entwickeln. Das ist eine wesentliche Aufgabe für uns, auch im Hinblick auf die Zusammenarbeit von Mensch und Maschine. Dafür stellen wir einerseits die Forschungsumgebung zur Verfügung, um Dinge zu testen. Vor allem stehen aber auch unsere Kolleginnen und Kollegen bereit, ihr Wissen mit den Industrieunternehmen zu teilen und gemeinsam an Projekten und Innovationen zu arbeiten.
Inwiefern profitiert auch das Fraunhofer IML dabei für seine Forschungsagenda im Innovationslabor vom Austausch mit Unternehmen?
Ten Hompel: Wirkliche künstliche Intelligenz zu entwickeln, wird nur gelingen im Zusammenspiel mit der Anwendung. Ein Robotersystem wirklich intelligent zu machen, erfordert es, dass das System mit seiner Umgebung kooperiert, die Umgebung wahrnimmt, mit anderen Robotern und dem Menschen kooperiert – und auf diese Weise lernt und sich weiterentwickelt. Die Verfahren künstlicher Intelligenz können im industriellen Umfeld nicht nur im Rechner selbst ablaufen, sondern erfordern die Interaktion mit der industriellen Umgebung. Und das sind genau die Projekte, mit denen die Industrie auf uns zukommt und umgekehrt wir auch auf die Industrie zugehen, weil wir solche Entwicklungen rund um künstliche Intelligenz, maschinelles Lernen, Digitalisierung, Industrie 4.0 und biointelligente Wertschöpfung vorantreiben. Das Rennen um die künstliche Intelligenz wird am Ende nicht im Labor, sondern auf dem Hallenboden entschieden.
Herr Prof. ten Hompel, vielen Dank für das Gespräch!