Silicon Economy: Ein Linux für die Logistik

In dem vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur mit rund 25 Millionen Euro geförderten und im September 2020 offiziell gestarteten Großprojekt zur Silicon Economy soll das Fraunhofer IML als Gegenentwurf zum Silicon Valley einer dezentralen und offenen Plattformökonomie in Deutschland und Europa zum Durchbruch verhelfen. Dazu arbeiten die beteiligten Wissenschaftler in sogenannten Entwicklungsprojekten an konkreten logistischen Problemlösungen, deren Basiskomponenten sie in Form von Hard- und Software über eine Open-Source-Plattform zur freien Nutzung zur Verfügung stellen.

Willkommen im »Linux für die Logistik«!

Die Entwicklungsprojekte des ersten Jahres in der Übersicht

Digitaler Ladungsträgertausch (e-Palettenschein)

Ladungsträger wie Paletten, Kleinladungsträger oder Gestelle werden heute aufwendig und uneinheitlich getauscht – die Beteiligten dokumentieren den Tausch papierbasiert und geben ihn händisch in IT-Insellösungen ein. Die Folge: hohe Personal- und Bestandskosten. Das Entwicklungsprojekt soll diesem Problem ein Ende bereiten und ein digitales Tauschdokument entwickeln. Dieses Dokument soll den Tausch rechtssicher quittieren und sich über mobile Devices wie Smartphones abwickeln lassen. Eine App soll den Tauschprozess digital erfassen, beiden Parteien zugänglich machen und die dazugehörigen Konten vollautomatisch belasten. Das Projekt strebt vor allem die Entwicklung eines Open-Source-Standards an, um die Tauschdaten zu verbuchen. 

Identifikationsservice basierend auf natürlichen Merkmalen

Ziel des Entwicklungsprojekts ist es, Versandeinheiten mit Anbindung zu Cloud-Plattformen vollautomatisiert zu identifizieren – und das ohne Barcodes. Die Forscher wollen Algorithmen entwerfen, die über eine Smartphone-App eine vollautomatisierte Bildanalyse sowohl im leeren als auch im beladenen Zustand der Ladungsträger ermöglichen – ausschließlich auf Basis natürlicher Merkmale wie Farbe, Form, Größe oder Textur. Als Ergebnis soll basierend auf Verfahren des maschinellen Lernens eine unternehmensübergreifend nutzbare Open-Source-Lösung entstehen.

Digitaler Frachtbrief (e-Frachtbrief)

Aufbauend auf den Ergebnissen des Projekts »e-Palettenschein« wollen die Wissenschaftler einen digitalen Frachtbrief generieren, der alle Informationen eines klassischen Frachtbriefs beinhaltet. Der e-Frachtbrief soll Informationen in Echtzeit bereitstellen und mit Smart Devices und in Web-Services abrufbar sein. Die Daten lassen sich dabei sicher, schnell und ohne eigene IT-Infrastruktur tauschen. Zudem ließen sich auch Zolldienststellen in den Prozess einbinden. Darüber hinaus streben die Forscher eine Überwachung wichtiger Daten entlang der gesamten Lieferkette an – von Temperaturverläufen über die Lieferhistorie der Frachtführer, Fahrzeiten, zurückgelegte Kilometer bis hin zur Analyse von Sendungsstrukturen. 

Dynamische Pause

Das Entwicklungsprojekt verfolgt das Ziel, durch flexible Pausenempfehlungen langfristig die Leistungsfähigkeit, Zufriedenheit, Gesundheit und Sicherheit von Lagerarbeitern, Lkw-Fahrern und KEP-Zustellern zu erhalten. Die »Dynamische Pause« soll Stress präventiv anhand individueller Vitalparameter vorhersagen und in Abstimmung mit unternehmensinternen Prozessen und den Anforderungen der Transportlogistik kurze Pausen empfehlen. Dazu soll jeder Mitarbeiter Wearables am Handgelenk tragen, die die Vitalparameter im Blick behalten. Methoden des maschinellen Lernens sollen dabei Muster in den Vitaldaten erkennen, die Anzeichen von mentalem und psychischem Stress vermuten lassen. 

Aufbau eines KI-basierten ETA-Services

Berechnungen der geschätzten Ankunftszeiten (ETA) für verschiedene Verkehrsträger sind aktuell noch zu ungenau. Die Folge: eine unzulängliche Ressourcenplanung an Umschlagspunkten und eine ungenügende Abstimmung zwischen den Verkehrsträgern. Ziel des Entwicklungsprojekts ist es daher, die ETA von Verkehrsträgern vollautomatisiert mit Anbindung zu Cloud-Plattformen zu bestimmen. Auf Basis natürlicher Merkmale der Verkehrsträger (z. B. Abhängigkeit vom Wasserstand in der Binnenschifffahrt) entwerfen die Forscher Algorithmen, mit denen sich eine vollautomatisierte ETA-Prognose duchführen lässt – auch unter Berücksichtigung einer verkehrsträgerübergreifenden Vernetzung. 

»Wir erleben ein neues Zeitalter in der Logistik: Künstliche Intelligenz hilft, Warenströme neu zu organisieren, Verkehre effizienter zu machen und Emissionen zu reduzieren. Damit die deutsche Logistikbranche auch weiter Weltspitze bleibt, treibt sie ihre Digitalisierung entschlossen voran. Das BMVI unterstützt dies mit dem Projekt Silicon Economy als Teil unseres Innovationsprogramm Logistik 2030, einem echten Push für die Digitalisierung«

Andreas Scheuer, Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur

Hochdynamische autonome Systeme mittels 5G / Outdoor LoadRunner

Mit dem LoadRunner hat das Fraunhofer IML im vergangenen Jahr eine neue Klasse hochdynamischer, autonomer Schwarmzeuge für die Sortierung vorgestellt. Im Rahmen des Outdoor-LoadRunner-Projekts untersucht das Entwicklungsteam nun die Skalierbarkeit und Übertragbarkeit des Plattformkonzepts auf den innerbetrieblichen Transport im Innen- und Außenbereich und die nahtlose Anbindung und Virtualisierung der Steuerung im Kontext der Silicon Economy. Im Fokus liegen hierbei neuartige Sensoren, die es ermöglichen, die hohe Dynamik auch auf die freie Navigation zu übertragen. Hier sollen auch Anforderungen an die 5G-Technologie in der Silicon Economy untersucht und definiert werden. Geplant ist ein lokales Testbed mit On-demand-5G-Basisstationen, in dem sich das komplexe Zusammenspiel hochdynamischer autonomer Fahrzeuge und der 5G-Technologie erproben und evaluieren lässt.

Supply Chain Execution

Das Entwicklungsprojekt soll die Transparenz in Lieferketten erhöhen. Mithilfe geeigneter Devices wie optischer Codes, RFID-Tags oder natürliche Merkmale identifizieren die Forscher hierzu Materialflüsse und verfolgen sie nach, z. B. den Ort, den physischen Zustand oder den Status des Geschäftsprozesses. Die dabei entstehenden Daten stellen sie in sicheren Cloud-Services zur Verfügung. Das soll die Planungssicherheit sowohl in der operativen Logistik als auch in der Logistikplanung und -disposition erhöhen und den Arbeitsaufwand reduzieren. Das Projekt fokussiert dabei zunächst exemplarisch auf Lieferketten im Bereich der C-Teile-Versorgung von Montage- und Produktionslinien. 

Modulare Open-Source-IoT-Devices in der Silicon Economy

In dem Entwicklungsprojekt wollen die Wissenschaftler einen Open-Source-Device-Broker für IoT-Devices entwickeln, der sich in bestehende Unternehmensprozesse einbinden lässt. Dafür entwickeln sie modulare Softund Hardware-Komponenten. Die Software-Entwicklung beinhaltet dabei den Aufbau einer dezentralen Kommunikationsstruktur für ressourcenbeschränkte IoT-Geräte und eines Plug-and-play-Konzepts für die Anbindung und Organisation von logistischen IoTGeräten.

Auch das am Fraunhofer IML angesiedelte und vom Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes NRW geförderte Europäische Blockchain-Institut liefert mit verschiedenen Entwicklungsprojekten einen wichtigen Beitrag für die Umsetzung der Silicon Economy.

Blockchain-basiertes System zur Gefahrgutabwicklung

Bei der Gefahrgutabwicklung werden sensible Informationen erzeugt, die zwischen den beteiligten Partnern ausgetauscht werden müssen. Dazu zählen zum Beispiel Daten zum Vertrag, zur Lagerung oder zum Zeitstempel. Häufig werden diese entlang der Lieferkette noch papiergestützt weitergegeben, da das Vertrauen zwischen den Partnern fehlt. Forscher des Blockchain-Instituts entwickeln deshalb ein Softwaresystem, das die Abwicklung entlang der Supply Chain mit der Blockchain-Technologie digitalisiert. So werden die Daten manipulationssicher aufbewahrt. Der Einsatz von Smart Contracts automatisiert außerdem die Vertragserstellung und verringert den Verwaltungsaufwand. IoT-, Logistik- und Blockchain-Broker, die Basiskomponenten der Silicon Economy, werden so in die Praxis umgesetzt.

Blockchain-basiertes »ATLAS«

Zollprozesse sind häufig nur teildigitalisiert und führen zu hohen Verwaltungsaufwänden in Unternehmen. Deshalb erforschen die Wissenschaftler des Blockchain-Instituts, wie die Abläufe sicher, automatisiert und effizient gestaltet werden können. Sie orientieren sich dabei an den technisch-rechtlichen Grundlagen des EU Zollkodex und des nationalen Zollsystems »ATLAS«. Die digitalen Zoll- und Zollbegleitdokumente (wie Rechnungen, Frachtdokumente und Lieferscheine) werden dabei auf der Blockchain manipulationssicher dokumentiert und gespeichert. Durch die digital verfügbaren Daten und den Einsatz von Smart Contracts können die einzelnen Prozesse des Zollverfahrens außerdem intelligent miteinander verknüpft und automatisiert abgewickelt werden.

Blockchain-Geschäftsmodelle

In der Silicon Economy entstehen durch die Blockchain-Technologie neue Geschäftsmodelle: Sie bietet die Möglichkeit, ohne zentrale Vermittlungspartei Informationen auszutauschen und Transaktionen durchzuführen. Die Wissenschaftler des BlockchainInstituts erforschen deshalb, wie sich die Technologie auf bestehende Geschäftsmodelle und Prozesse auswirkt. Anschließend entwickeln sie Ansätze für neue Geschäftsmodelle. Dazu zählen zum Beispiel Pay-perUse-Lösungen für eine nutzungsabhängige Bezahlung. Diese werden durch Blockchains erst ermöglicht, da durch die Manipulationssicherheit der Daten die Nutzung besser überprüft werden kann. Auch der Einsatz von Smart Contracts als Basis für eine automatisierte Abrechnung wird erforscht. 

Redaktion

Bettina von Janczewski

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Dipl.-Kffr. Bettina von Janczewski

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